“Verbringe so viel schöne Zeit wie du nur kannst
zusammen mit deinem Hund.
Dein Fokus sollte immer auf euer Wohlergehen liegen!”
Im Jahr 2020 musste ich meinen Seelenhund, meinen besten Freund und Weltveränderer gehen lassen. Fast 15 Jahre durfte Roco alt werden, und beinah ganze 10 Jahre begleitete er mich an meiner Seite. Er war eine starke Persönlichkeit, unglaublich stur und hatte lange sensible Antennen für Emotionen und Stimmungen. Unsere Anfangszeit war für uns beide eine große Herausforderung. Er war ein Angsthund, spielte nicht, nahm keine Leckerli, hatte Jagdtrieb ohne Ende und zog so stark wie ein Stier an der Leine. Alles, was er scheinbar nur wollte, war, Laufen, Laufen und Laufen. Draußen hatte ich keinen Zugang zu ihm. Wollte ich links abbiegen, wollte er rechts abbiegen. Wollte ich weitergehen, wollte er stehen bleiben. Im Wald oder auf den Feldern schien er in seine eigene Welt eingetaucht zu sein. Statt mir zu folgen, wollte er grundsätzlich seinen eigenen Weg gehen und blieb einfach sitzen, wenn sein Ziehen an der Leine ihn keinen Schritt weiter brachte. Im Haus war Roco unauffällig. Er war immer in meiner Nähe, genoss die Streicheleinheiten, hatte aber Angst vor Menschen und wollte mit Artgenossen nichts zu tun haben. Da blieb irgendwie mein Wunsch auf der Strecke, einem Notfallhund aus dem Tierschutz ein besseres Leben zu schenken und vor allem ihm meine Welt zu zeigen. Doch in dem Augenblick, als ich die Verantwortung für unser gemeinsames Leben selbst in die Hand genommen hatte, ihn so annahm wie er war, erkannte ich, dass dieser Hund mich schon längst in seine Welt gelassen hatte. Eine besondere Reise hatte begonnen.
Ich muss etwas mit meiner Geschichte ausholen, denn sie beginnt eigentlich schon im Jahr 2007, als ich für zwei Tage beruflich in Valenzia war. Ich genoss gerade die Pause auf der offenen Hotelterrasse bei einem Kaffee und las in einem Buch, als sich einfach aus dem Nichts ein großer blonder Hund neben mich setzte und seine Schnauze auf meinen Arm legte. Ich ließ ihn, sah ihn kurz an, lächelte, sagte aber kein Wort zu ihm und las weiter in meinem Buch. Nach kurzer Zeit verschwand er wieder.
Nachdem ich meinen Kaffee getrunken hatte, ging ich zu meinem Appartement. Hier gab es auch eine Terrasse, die über eine kleine Treppe zu erreichen war. Es dauerte nicht lange, als auf einmal ganz langsam und vorsichtig die Nase des blonden Hundes erschien. Er stand auf der obersten Treppenstufe, sah mich an, kam näher und legte sich zu mir. Er war ganz ruhig, trug ein Halsband und schien also zu jemandem zu gehören. Mir fiel auf, dass er eine verletzte Pfote hatte, die allerdings versorgt war. Ich sah eine kleine rasierte Stelle an seinem Vorderbein und, dass die Wunde genäht worden war. Es schien ihm gut zu gehen, denn er humpelte nicht, hatte wohl keine Schmerzen und einen Menschen, der sich um ihn kümmerte. Dennoch fragte ich mich, warum dieser schöne Hund alleine unterwegs war. Ich gab ihm Wasser, und wir verbrachten den Nachmittag zusammen. Wir waren gerade auf einem Spaziergang, bei dem ich dem Hund folgte, der zwischendurch immer stehen blieb, um auf mich zu warten, als ich an meine Rückreise an diesem Abend dachte. Ich musste zurück, um meine Sachen zu packen. Ich blieb also stehen, und als hätte er es verstanden, was meine Gedanken waren, ging er jetzt ohne sich nach mir umzudrehen weiter seinen Weg. Hatte er doch vorher immer auf mich gewartet, so tat er es in diesem Moment nicht. Es gab in dem Sinne also keinen Abschied. Nur den gesendeten Gedanken an ihn: Ich danke dir für diesen wunderschönen Nachmittag. Und bitte pass’ auf dich auf.
In Deutschland angekommen, war natürlich noch dieser Hund in meinem Kopf. Alles schien aber normal wie immer zu sein, bis mir am nächsten Morgen erzählt wurde, dass der Hund vor der Tür meines Appartements erschienen war und auf mich gewartet hatte. Er bekam Brot und Wasser, blieb noch einen kurzen Moment und war dann wieder gegangen.
Wer war dieser Hund? Zu wem gehört er? Wo ist er jetzt? Wie geht es ihm? Wartet er heute wieder an meinem Appartement? Was ist, wenn die Menschen ihn nicht mögen und ihn fortjagen? Ich hatte plötzlich tausend Fragen zu diesem Hund. Aber keine einzige Antwort. Einige Kollegen, die noch vor Ort waren, fragten überall nach, ob jemand diesen Hund kennen würde. Selbst das Hotelpersonal hatte angeblich diesen Hund vorher noch nie gesehen. Ich hatte Fotos von ihm gemacht, aber niemand kannte ihn oder wusste etwas über ihn. Niemand hatte ihn mehr gesehen und die Suche um das Hotelgebiet war erfolglos. Er war weg und spurlos verschwunden. Es blieb nur noch die Erinnerung an diesen einen besonderen Nachmittag.
Noch ein Jahr suchte ich nach ihm. Kollegen, die nach Valenzia reisten, fuhren das Gebiet um das Hotel ab. Ohne Erfolg. In dieser Zeit recherchierte ich zusätzlich im Internet. Ich schrieb spanische und deutsche Tierschutzvereine an und fragte, was ich tun könnte, um diesen Hund zu finden. Sie empfahlen mir Internetseiten von öffentlichen Tierheimen und sogar Tötungsstationen in Spanien zu besuchen. Falls ihn jemand dorthin gebracht hat, könnte ich ihn vielleicht auf einer der Websites finden.
Ich fand viele tolle und schöne Hunde; nur nicht ihn. Jedoch fand ich in den folgenden Monaten heraus, wie wenig ich über Tierschutzhunde bzw. das Leben der Straßenhunde wusste. Schon allein das Wissen, dass es Tötungsstationen gibt. Hunde, die in einer festgelegten Zeit kein Zuhause finden, werden eingeschläfert. Sie sind gesund und vermittelbar. Das einzige was ihnen fehlt ist ein Zuhause. Ich war naiv zu glauben, dass es den Tieren in einem Tierheim gut gehen und sie alle ein Zuhause finden würden. Ich glaubte daran, dass jeder Tierbesitzer sein Tier bis an sein Lebensende mit ihm verantwortungsvoll und liebevoll umgehen würde. Stattdessen werden viele Familienhunde einfach auf die Straße gesetzt. In Spanien und in anderen Ländern ist es völlig normal.
In jedem Land herrschen andere Umstände. In jedem Land werden Tiere in Bezug auf ihre Wertigkeit unterschiedlich eingestuft. Aufgrund des neuen Wissens, denn ich recherchierte dann nicht mehr nur in Spanien, sondern in vielen anderen Ländern weiter, war für mich klar, der nächste Hund kommt aus dem Tierschutz und sollte ein Notfallhund sein.
Nach über einem Jahr gab ich meine Suche nach dem großen Blonden zwar auf, was mir sehr schwer fiel, aber dafür war die Entscheidung getroffen, dass ich einen Hund adoptieren wollte. Bis dahin hatte es aber noch einmal ein Jahr gedauert, denn diesen Notfallhund musste ich erst finden.
Wir fuhren viele Kilometer und besuchten viele deutsche Tierheime. Wir sahen viele Hunde, die dringend ein Zuhause brauchten, aber irgendwie fühlte sich nichts richtig an. Ich wollte nicht irgendeinen Hund, den vielleicht das Tierheim unbedingt vermitteln wollte. Uns wurden einige Hunde gezielt vorgestellt, aber keiner war dabei, bei dem ich sagen konnte: Ja, er bzw. sie ist es. Das Aussehen war mir unwichtig, die Vorgeschichte oder das Alter interessierten mich nicht. Scheinbar gab es ein Kriterium, das ich nicht in Worte fassen konnte. Und so kam ich zurück auf Spanien, wahrscheinlich unbewusst durch mein Erlebnis angetrieben, und durchforstete die Websites spanischer Tierschutzvereine. Ja, und da war mein Notfallhund. Roco hieß er. 5 Jahre alt, lebte in einem spanischen Shelter in Malaga und war als Notfallhund ausgeschrieben, weil niemand einen Zugang zu ihm bekam. Er wurde von seiner Familie mit zwei Jahren abgegeben. Sie wollten ihn nicht mehr. In den drei Jahren im Tierheim sah Roco auf den Fotos optisch besser aus, hatte aber inzwischen innerlich sehr stark abgebaut und sich aufgegeben, dass die Tierschützer Sorge hatten, er würde sterben.
Meine Entscheidung fiel sofort. Das war er, den ich gesucht hatte. Mir war es so klar, dass er bei mir einziehen wird. Nach nur wenigen Tagen kam die Vorkontrolle zu mir nach Hause und es stand nur noch eine Sache im Weg – der Transport nach Deutschland. Es musste ein Flugpate gefunden werden, der Roco von Malaga mitnehmen konnte. Wie lange dies dauern würde, konnte der Verein mir nicht sagen, denn Flugpaten seien rar. Ich hatte so lange nach diesem einen Hund gesucht, und nun sollte ich eine ungewisse Zeit lang noch auf ihn warten? Es war alles für ihn vorbereitet. Wie lange sollte ich auf ein leeres Hundebett schauen? Ich wollte nicht warten. Also buchte ich meinen Flug nach Malaga und holte ihn zusammen mit zwei anderen Tieren persönlich dort ab.
Herzlich Willkommen in meiner Welt
Es war Nacht, als wir beide vom Flughafen nach Hause fuhren. Während der Fahrt war er in der Flugbox und schien zu schlafen. Ich redete die ganze Zeit mit ihm und beobachte ihn über den Rückspiegel. Die Fahrt war ruhig. Zuhause angekommen, ließ er sich ohne Probleme aus der Box holen. Da war er nun. Ich zeigte ihm sein neues Heim, und er lief durch die Räume und die Treppe hinauf, als würde er schon alles kennen. Alles war so problemlos; von Angst überhaupt keine Spur. Im Wohnzimmer wieder angekommen stand er vor mir, und wir sahen uns an. Dünn war er. Er hatte eine eckige Figur, sein Fell lag platt an seinem Körper und wirkte strohig, und dann diese schönen Augen. Was er wohl dachte? Jetzt erst nahm ich den Augenblick wahr, ihn langsam zu streicheln und ihm “Herzlich Willkommen in meiner Welt” zu sagen. Keine Ahnung, warum ich es nicht früher tat. Vielleicht, weil wir beide gerade den Moment der Ruhe hatten.
Die ersten Nächte schliefen wir zusammen im Wohnzimmer. Roco auf dem Boden und ich auf der Couch. In der Nacht drehte Roco immer seine Runde. Er ging durch das Haus, auch die Treppe hinauf, in jedes Zimmer und bevor er sich wieder hinlegte, kam er bei mir vorbei und beschnüffelte meinen Kopf oder mein Gesicht, je nachdem wie ich auf der Couch lag. Tagsüber konnte ich ihn mit ins Büro nehmen, wir gingen spazieren, den Nachmittag verschlief er und abends gingen wir die letzte Runde. An sich hatten wir keine Probleme.
Nach etwa zwei Wochen zeigte Roco, dass er Angst vor Männern hatte. Andere Menschen durften ihm nicht näher kommen, dann flüchtete er. Artgenossen, wie ich dann später in der Hundeschule feststellte, interessierten ihn nicht. Im Freilauf ging er ihnen immer aus dem Weg. An der kurzen Leine zog er und sein Jagdtrieb war extrem groß. Wenn ich ihn ansprach, reagierte er überhaupt nicht. Er sah noch nicht einmal zu mir herüber. Wenn wir mit der Schleppleine unterwegs waren, zeigte er mir wie stur er sein konnte. Laufen ohne Stop und die Richtung bestimmte er. Andernfalls setzte er sich hin und wartete bis ich ihm nachgab. Ich konnte mich verstecken (20 Meter Schleppleine, sich zu verstecken war manchmal möglich), das interessierte ihn überhaupt nicht. Er setzte sich hin und wartete bis ich wieder zu ihm zurückkam. In meinem Versteck hätte ich verhungern können, währenddessen sah er sich die Umgebung an.
Wenn es Situationen gab, die er nicht einschätzen konnte, zitterte sein ganzer Körper. Er klebte regelrecht am Boden fest und bewegte sich dann keinen Zentimeter mehr. Alleine lassen, nur ohne ihn aus dem Raum gehen, war nicht möglich, dann verfiel er in Panik. Waren wir allein zusammen Zuhause, hatten wir allerdings keine Probleme.
Auf Empfehlung besuchte ich eine Hundeschule und erhoffte mir Unterstützung bei den Problemstellungen und tiefer gehende Erklärungen zu seinem Verhalten. Schon nach nur zwei Wochen kündigte ich den Vertrag und ging nicht mehr hin.
Die Trainingsempfehlungen bzw. -maßnahmen beinhalteten Zwänge, Druck und körperliche Gewalt. Leinenruck, dem Hund auch körperlich klar machen, wer das Sagen hat oder den Hund in Übungen hineinzwingen, ungeachtet dessen, wenn er vor Angst blockiert. Im Freilauf wurde Roco von der Trainerin mit einer großen Blechdose, die mit Steinen gefüllt war, abgeworfen und über dem Auge getroffen. Der Grund dafür: Er hatte das Holzhaus markiert.
Ansatzweise wusste ich es schon zu dieser Zeit, dass diese Trainingsansätze veraltet und falsch waren. Und ich stelle mir heute immer noch die Frage: Wie kann sich mit diesen Trainingsmaßnahmen Vertrauen aufbauen? Denn diese gibt es heute immer noch!
Das Thema “Hundeschule” ließ ich damit schnell hinter mir und kontaktierte eine Hundepsychologin. Zwei Stunden dauerte ihr Besuch. Nachdem sie ihren Standard-Fragebogen abgearbeitet hatte, sah sie sich Roco auf einer Wiese an. Wir ließen ihn an der Schleppleine und an der kurzen Führleine laufen.
Ihre Empfehlungen:
Er müsse ein Halti tragen, damit er das Laufen an der Leine lernt.
Ein Spielebuch, um Roco das Spielen beizubringen. Das Buch beinhaltete Tipps und Vorschläge, wie man im Haus Tunnel mit Stühlen, Tischen und Kisten baut. Aha. Durch die sollte ich meinen Hund dann schicken? Ich kaufte das Buch also nicht.
Ja und ansonsten wüsste sie es auch nicht, warum er solche Angst hat, und warum er nicht hört. Ich wollte keine weiteren Termine.
Also stand ich da mit dem Blick auf diesen Hund und fragte mich:
Wer bist du?
Warum hast du nur solche Angst?
Was kann ich für dich tun, damit ich dich verstehe? Damit du mich verstehst.
Wie können wir ein Team werden?
Was macht dich glücklich und lässt dich frei fühlen?